"Du bist viereinhalb Jahre fort gewesen."
Mittlerweile war es völlig dunkel geworden, und der Regen hatte
erneut eingesetzt. Der alte Holzstuhl knarrte unter meinem leichten Zusammenzucken. Grundlos griff ich nach der leeren Tasse auf dem Tisch neben mir und stellte sie nach einem hektischen Blick hinein wieder zurück.
"Vier Jahre und zwei Monate", hörte ich mich murmeln. Sie bewegte sich, doch ihr Gesicht war in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen.
"Das macht es nicht besser. Du hast sie doch nicht mehr alle. Einfach abhauen. Keiner weiß, wo du bist. Dann zweimal im Jahr eine Postkarte schreiben, es ginge dir gut, du würdest uns vermissen", sagte sie mit gepresster Stimme, mich ansehend.
Ich weiß.
"Und dann einfach hier auftauchen, und bei 'nem Kaffee drüber reden wollen? Stirbst du jetzt, oder was?"
"Nein, ich sterbe nicht."
Sie atmete tief durch, schien wieder ruhig, während sie dennoch nach ihrem Tabakbeutel griff und begann, sich eine weitere Zigarette zu drehen. Früher hatte sie weniger geraucht. Dafür war sie impulsiver gewesen, sie hatte die Distanziertheit mir gegenüber nie so lange ausgehalten. Damals war sie aber auch lediglich aufgesetzt gewesen, die Distanziertheit. Vier Jahre und zwei Monate früher. Sie hatte sich verändert, ich konnte es unter der Maske erkennen.
"Was willst du dann hier? Jetzt?"
Etwas ratlos zuckte ich mit den Schultern. Schon zu Anfang hatte ich nicht so recht gewusst, was ich sagen wollte, jetzt gab es für mich nichts mehr zu sagen. Was ich suchte, begriff ich, würde ich nicht bekommen. Der Mensch, der mich hätte lossprechen können, existierte so nicht mehr. War verschwunden zwischen Warten, Ungewissheit, Wut und vier Jahren und zwei Monaten Leben, von denen ich keine Ahnung hatte, in denen ich nur als Absender auf halbjährlichen Postkarten augetaucht war. Überraschung. Nur die Schulden zwischen uns und der flaue Nachklang unwideruflich falscher Entscheidungen waren geblieben. Der Regen wurde stärker, und der Wind drückte sich geräuschvoll in Winkel und Ecken des Giebels.
"Wirst du dich jetzt stellen?", fragte sie, den Blick wieder in das bewegte Nichts vor dem Fenster gerichtet, und entzündete die Zigarette. Das Aufflammen erzeugte eine kurze Reflexion ihres Gesichts in der Scheibe. Für eine Sekunde fragte ich mich, ob das nun doch noch ein letztes Mal die Frau von früher gewesen war, die mir vertraute Maske.
Dann suchten sich auch meine Augen einen unbestimmten Punkt in der cyangesprenkelten Schwärze, mein Kopf voller Bilder aus den letzten Jahren, durchmischt mit der Angst vor den bevorstehenden; Fluchtgedanken, dem lebensbegleitenden Drang nach Weite um mich herum. Nach Freiheit.
Aber wie frei kann man schon sein, wenn man nicht loslassen kann, was man loswerden muss?
Dieser Text ist für die Ausgabe Befreiung des Projekts Kurzschluss von bastiH entstanden. Während der Produktion kam außer etwas veralteter Hardware kein Lebewesen zu schaden.
Noch viel Befreienderes gibt es von
frau cassiopeia im
gastbeitrag beim neubaublog
karatekueken
bastih
Patsy Jones mit
gastbeitrag bei saripari's septemberrave